mikado als symptom


(eine vage klarstellung)

das Leben im real existierenden Sozialismus war ein fortwährendes Warten und Anstehen. sogar an Sonn- und Feiertagen, da auch das Einkaufen in den Spätverkaufsstellen bei viel Andrang sich aufwendig gestaltete. den daraus resultierenden Missmut löste kein Vordrängeln und ebenso keine Komplexannahmestelle auf, die bei einem steten Personalmangel bloss limitiert Dienstleistungen vom Reparatur- bis zum Waschdienst anbot. der DDR-Alltag wurde zu einer Warteschleife mit unerfüllbaren Erwartunge und deswegen gingen sogar geduldige Menschen irgendwann auf die Strasse. sie forderten eine Wiedervereinigung, welche die freie Markwirtschaft verhiess. nur wurde mit ihr nach dem Ende der DDR das Konsumieren bei einem Überangebot an Waren nicht einfacher.
Schlangen an den Kassen sind nach wie vor zu akzeptieren, und in Berlin in den Stosszeiten vor langen Wochenenden langwierige Angelegenheiten. dennoch verärgern sie weniger oder werden als interessante Abwechslung angesehen. in einer Konsumgesellschaft, wo fast alles global zu ordern ist, verspricht der Mangel etwas Besonderes zu sein. so harren am Kreuzberger Mehringdamm täglich zahlreiche Touristen vor dem Gemüsekebap Mustafa aus, den Reiseführer als eine besondere Lokalität anpreisen. hier bekommt jeder angeblich einen einmalig individuell zusammengestellten Döner. er würde solches nicht freiwillig über sich ergehen lassen, nicht das Warten und nicht den Döner. zumal es in Berlin auch niemand muss. es gibt in jedem Kiez Imbiss-Angebote und Schmackhafteres aus der wirklich internationalen Küche. wen ein Überangebot allerdings verwirrt, der sehnt sich nach dem Mangel und stellt sich gern dort an, wo es viele hinzieht. vielleicht eröffnet bald jemand für den Mustafa eine Kette mit seinem Namen, so dass sich die Fans gleichmässiger in der Stadt verteilen.
bei kulturellen Angeboten übernehmen dies Vorverkaufsstellen, indem sie online Tickets für alle Theater- und Kunsttempel anbieten. dennoch bilden sich an den Abendkassen Schlangen. Touristen drängt es zu den kulturellen Highlights, welche sie mit ihrer Reise gleich mit buchen. wer spontan dabei sein will, muss sich geschickt vordrängeln. beim Pariser Louvre gelang es ihm einst als gelernter DDR-Bürger, ohne dass es moniert wurde. er hätte ansonsten zwei Stunden in stechender Sonne auf den Einlass warten müssen und wäre ganz matt an der Kunst vorbeigeschlichen. bei Inszenierungen im Theater ist es ein gutes Zeichen, wenn sich Besucher um Restkarten ausdauernd bemühen. besonders Vorstellungen der Berliner Volksbühne sind nach Jahren der Flaute nun permanent ausverkauft. das Haus soll bald ein Event-Manager umorganisieren, was eine Endzeitstimmung aufkommen lässt, die viele anzieht. sogar für die fünfstündige Inszenierung von Hebbels Judith hoffen Enthusiasten auf übrig gebliebene Karten. es hat sich herumgesprochen, dass es hier wieder voll ist.