mikado als symptom


(eine vage klarstellung)

im analogen Zeitalter musste man ein Rechentalent sein, um Preise vor und hinter einer Kasse flugs zu ermitteln. das Kopfrechnen wurde dafür in der Schule trainiert und resolut in Wettbewerben getestet, bei denen in der Klasse alle aufstanden und sich wieder setzen durfte, wer als erster das richtige Ergebnis nannte. das ging für die Stehenbleiber am Ende peinlich aus und so wurde es intensiv geübt. sein Vater verdonnerte ihn, als mal ein Mathe-Test mit einer Drei benotet wurde, jeweils vor dem Essen zu ordinären Multiplikationen. sein Druck fruchtete und er bekam bald eine Eins nach der anderen, weil er sich das Rechnen mit Tricks vereinfachte. fasziniert war er von einer Anekdote, die davon berichtet, wie der neunjährige Carl Friedrich Gauss in einer Dorfschule die Zahlen von eins bis hundert geschwind addierte. er hatte für die Fleiss-Aufgabe den richtigen Algorithmus gefunden. so wollte er es ebenfalls meistern und wurde ein Fan von kniffligen Aufgaben.
für schulische Rechenaufgaben gab es in der DDR keine Taschenrechner. man musste sich, weil sie nur im Intershop für die harte Währung zu kaufen waren, mit einem Rechenschieber begnügen, der mituner bessere Ergebnisse lieferte, insofern sich Rundungsfehler kompensierten. seitdem die Ware gescannt und automatisch kalkuliert wird, vermögen selbst Verkäufer an der Kasse das Kopfrechnen kaum noch. lange Zeit mussten sie alles manuell taxieren und an der Wursttheke den Kilopreis mit dem angezeigten Waagen-Ergebnis rauf und runter multiplizieren. das junge Personal bringt man nun mit derartigen Angaben durcheinander, sie kennen das Viertel Pfund nicht, etwas im Kopf zu teilen, überfordert sie völlig.
wer in der Mathematik glänzen will, braucht kein gutes Gedächtnis zu haben, man kann sich auf ein logisches Denkvermögen verlassen. als Lehrling in einem Fernmeldeamt nutzte es ihm wenig, hier war er auf ein gutes Kurzzeitgedächtnis angewiesen. wurde eine Störung gemeldet, war für die angegebene Telefonnummer über Karteikarten der Code eines Einwahl-Drehwählers und dann die Ziffer vom ersten Hebdrehwähler zu ermitteln. er hatte fortlaufend fünfstellige Zahlen zu memorieren, was ein gutes Training für die grauen Zellen war. schnell musste er sie aber wieder löschen, um nach Feierabend fit für seine Bücher zu sein. wen Zahlen als ein Narkotikum hypnotisieren, ist ein Autist oder ein dröger Nerd. die Kurzspeicherkapazität ist eine begrenzte und funktioniert bei ihm nicht zuverlässig. etwas auswendig lernen kann er damit nicht. es gelingt ihm sogar bei den eigenen Gedichten nicht. als er für den Russischunterricht ein Poem von Puschkin in der Originalsprache vortragen musste, schrie er es mehrere Nachmittage zuvor am leeren Strand in einen See und nachdem es nicht half, wurden die Strophen zu einem Blues vertont, den er irgendwann ohne Blatt singen konnte. noch heute übrigens die ersten beiden Strophen.