mikado als symptom


(eine vage klarstellung)

ab und zu muss er sich entgiften. bei der Lunge reicht es aus, die stickige Stadt- gegen eine frische Landluft in unpopulärer Lage ohne Autozugang auszutauschen. das Innere von Magen und Darm braucht hingegen eine Gewohnheiten bekämpfende Fastenzeit. das fällt ihm nicht schwer, da er an manchen Tagen kaum richtig zum Essen komme. schwieriger ist es, die Leber zu entlasten, wenn das Einschlafen täglich ein Bier beansprucht und die Winterkälte bisweilen einen Klaren. ein Bekannter empfahl ihm neulich für eine Leber-Kur eine Mixtur aus zwei Löffeln Bittersalz, einer Tasse Olivenöl und zwei Grapefruits. so etwas würde er nie herunterbekommen. er präferiert den gemeinen Pfefferminztee und zum Abendmahl einen frischen Blattsalat.
nicht ganz so einfach ist es im höheren Alter, den Kopf zu entleeren. wo zu viele Megabytes abgespeichert wurden, fehlt der Platz für neue Details. immer mehr Jobber benötigen deswegen eine Therapie. sie leiden an einem Burn-out, weil sie zu viel arbeiten und keine wirklichen Freunde haben, mit denen sie sich in einer Kneipe ausquatschen bzw. auskotzen können. sie suchen ständig einen Kitzel, der sie antreibt. es boomt wohl deshalb ein Dark-Tourismus, der Leiter mancher Gedenkstätten erfreuen lässt, weil ihre Besucherzahlen in die Höhe schnellen. die Konzentrationslager in Auschwitz und Buchenwald, das Sperrgebiet um Tschernobyl oder der Kriegstunnel in Sarajevo sind beliebte Reiseziele geworden. Menschen, welche die Lust am Schrecklichen suchen, fahren dort hin. der Pariser Promi-Friedhof Père Lachaise mit den Gräbern von Oscar Wilde und Jim Morrison waren es einst, nun sollen es Orte mit einem historischen Grauen sein, wie auch immer häufiger das ehemalige Stasi-Gefängnis in Hohenschönhausen, wo mancher sogar in einer Zelle übernachten möchte.
er hat sich vor aufklärerischen Ausflügen in finstere Vergangenheiten stets gedrückt. es reicht ihm aus, darüber allgemein informiert zu sein. ein Konzentrationslager wollte er nie besuchen, und als er es während einer FDJ-Studienreise sollte, hat er sich krank gemeldet. die Vorstellung mit seiner Klasse albernd jenen Ort aufzusuchen, wollte er sich nicht antun. Bücher und Filme sensibilisierten bereits ausführlichst über zivilisatorische Abgründe, die vielen Genozide im Schwarzbuch der Geschichte, und die täglichen Nachrichten vermögen es aktuell ebenso. im Geschichtsunterricht war der Holocaust ein zentrales Thema, wurde nur anders, nämlich Völkermord genannt. man analysierte und besprach hier neben dem deutschen Faschismus auch den spanischen, griechischen und portugiesischen, und dies sehr emotional. bei einer Diskussion über die Foltermethoden der Gestapo geriet eine Unterrichtsstunde mal zu einem ungewollten Selbstläufer. jeder wusste Grausameres über Verstümmlungen und medizinische Experimente zu berichten. es wurde en detail immer brutaler und abstruser. nur mit Mühe konnte der Lehrer jenen alptraumhaften Horrortrip beenden.