überflieger in spe


(eine versuchte selbstheit)

ich bin in einem geistig beengenden Milieu aufgewachsen. in meinem Elternhaus gab es keine schöngeistige Literatur, nur zur Zierde der Schrankwand ein zweibändiges Universallexikon und einen Bildband über den Spreewald. mein Vater hatte in seinen Schubladen noch Fachbücher für den Elektromonteur gelagert, die er mir für später empfahl. ich habe sie trotzdem durchgeblättert, las aber bevorzugt Romane mit inspirierenden Geschichten, nämlich aus Bibliotheken ausgeliehene. ich frass sie regelrecht auf in einem kleinen Kinderzimmer, das ich mit meiner Schwester teilte. in die Lesewelten von Jules Verne und die Indianer-Hexalogie von Liselotte Welskopf-Henrich zog ich mich zurück und war da unerreichbar für andere Lockungen des Alltags. so wurde meine Kindheit eine abgekapselte Fiktion.
hatte ich ein Buch ausgelesen, suchte ich sogleich nach weiterem Lesestoff sogar im Altpapier, und zu Dutzenden fand ich ihn hier zerfleddert und mit herausgerissen Seiten. es waren Kundschafterromane darunter oder Machwerke des sozialistischen Realismus von Eduard Claudius, welche ideologisch verbrämt für den Geist einer kleinkarierten Weltanschauung erziehen sollten. ausdauernd habe ich sie durchgeschmökert, so als müsste später Kunde gegeben werden von einer merkwürdigen Zeit. selbst als das Literaturangebot besser wurde und der eigene Geschmack anspruchsvoller, konnte ich mich selten von schlechten Büchern trennen. ich las sie immer in der Hoffnung auf eine sinngebende Wendung oder um dem Autor auf die Schliche zu kommen. vielleicht wollte ich mir auch, wie es heute bei Serienjunkies üblich ist, ein Durchhaltevermögen beweisen.
als ich Abiturient war, versammelten sich in meinem Bücherregal neben drögen Romanen von Erwin Strittmatter, Johannes R. Becher und Hermann Kant ebenso die Verfassung der DDR. das wurde sogar von der Stasi dokumentiert, weil sie zahlreiche Anstreichungen bekam. darüber hinaus landeten hier ein historisch dialektischer Materialismus, ein Band Stalin und Schriften von Lenin. oder es waren anregende Autoren der Weltliteratur, deren Namen ich nicht richtig aussprechen konnte. ich musste erst ein wenig Französisch, Spanisch lernen und irgendwann Latein, um fremde Fremdwörter zu verstehen. alles Gelesene stapelte ich, lieh weniger aus und kaufte mir den besseren Lektürestoff bevorzugt als billige Taschenausgaben. solange mich ein Text in seinen Bann schlug, blieb die Zeit stehen. ich befand mich in einem unerreichbaren Abseits. zeit meines Lebens habe ich mich abgeschirmt, ohne je der trügerischen Position einer Überlegenheit zu erliegen. hoch sensibilisiert wollte ich zu keiner Mitte vordringen, sondern wie ein Ingenieur in einem Atomkraftwerk den brodelnden Kern von Aussen betrachten.