überflieger in spe


(eine versuchte selbstheit)

in kulinarisch bescheidenen, aber sättigenden Verhältnissen ist er aufgewachsen. fast jeden Tag wurden in der Schule und zu Hause Schnitzel oder Koteletts mit fetten Sossen aufgetischt. bei Kinderfesten gab es Hefeklösse mit Blaubeeren und es wurde ermittelt, wer die meisten, d.h. mehr als zehn oder zwölf, in sich hineinmampften konnte. für Geburtstage wurde von Müttern der Kekskuchen "Kalter Hund" mit viel Kokosfett als Kalorienbombe zubereitet. obwohl es schmeckte, durfte davon nicht zu viel vertilgt werden, sonst bekam man Bauchschmerzen oder einen Drehwurm. ihm wurde schon übel, nachdem er bei der Zubereitung die Schüssel ausleckte. bei einem Päckchen Brausepulver, das auf die Zuge geschüttet perfekt berauschte, war solches nicht zu befürchten. auch nicht im Walzer Traum, der ihn als Karussel auf dem Rummelplatz für 50 Pfennige schwindlig drehte.
heute müssen Eltern sehr viel Phantasie aufbringen, um ihrem Nachwuchs bei Geburtstagspartys beeindruckende Erlebnisse zu garantieren. es werden als abenteuerliches Programm Klettertouren, Bowlingbahnen oder Workshops in Museen gebucht. die Geschenke fallen grosszügiger aus und manche Mütter notieren sich, wer was geschenkt hat, damit sie auf dem gleichen Niveau später Präsente zurückschenken. ein solcher Aufwand beeindruckt die jungen Jubilare wenig, sie würden lieber einfach so zusammenkommen, um vorzugsweise mit den elektronischen Geräten in ihrem Zimmer zu spielen. wo in Familien der Nachwuchs mit statistischer Signifikanz als Einzelkind aufwächst, erhöht sich die Fürsorge. die Erben sollen sich optimal entwickeln und werden früh mit einem reflexaktivierenden Babyschwimmen gestresst und in der Schulzeit dann durch eine durchgeplanten Nachhilfe-Unterricht. jene Betreuung setzt den Nachwuchs enorm unter Druck, was sich in apathischen Symptomen äussert, so dass Eltern es sogar als ihre Aufgabe ansehen, sozialen Kontakte für die Kids zu arrangieren.
vor 15 Jahren, als sein erster Sohn eingeschult wurde, war es völlig anders. die Eltern sorgten sich, dass ihre Kinder zu viel lernen müssten und ein Leistungsdruck sie verderbe. richtig Lesen sollten sie erst ab der dritten Klasse und Zensuren frühestens zwei Jahre vor dem Abitur erhalten. nunmehr will man den fördernden Erfolgszwang und keine am Nachmittag frei herumspielenden Strassenkids. sie werden, egal ob hochtalentiert oder nicht, früh gecoacht, damit sie sich im späteren Leben gut positionieren. nur wie sollen sie sich jemals selbst behaupten können? man wird nichts Grossartiges erwarten dürfen. sie werden viel Geld erben und es spekulativ vermehren oder einfach verprassen. und falls sie kein dickes Testament bekommen, ihre Eltern verachten. erst wieder von ihren Kindern, ist vermutlich anderes zu erhoffen. es gibt zu viel Elend auf dieser Welt, auch im Nicht-Elend. Else Lasker-Schüler hat in ihrem Essay "Arme Kinder reicher Leute" vor solchen Auswüchsen bereits gewarnt.