petting des ich


(ein investigativer rückblick)

im Hinterhof wurde gestern die alte Kastanie abgeholzt. wohl sechzig, siebzig Jahre hat sie gebraucht, um eingekeilt zwischen zwei Häusern gen Himmel emporzuwachsen. in Höhe der Gesimse faltete sie mit jedem Frühling ihr Blattwerk wie ein Dach auf, so dass es angenehm schattig wurde. eine sadistische Kettensäge verarbeite sie in weniger als sechs Stunden zu Kleinholz. Stück für Stück wurden Stamm und Äste abgetragen. danach war Feierabend für die Bereiner und der Hof ganz hell. in den heissen Sommern wird ohne ihre abschirmendes Grün die Zimmertemperatur um weitere Hitzegrade steigen. viele Mieter freuen sich erst einmal darüber, dass ihre Wohnung nun weniger dunkel ist und der Ausblick ein anderer.
vor nicht allzu langer Zeit sorgten sich die Menschen um ihren Baumbestand. der Wald war wegen zu vieler schädlicher Abgase durch einen sauren Regen bedroht und wurde sogar in Schlagern als Lebensgut entdeckt. man fürchtete, das Land könnte allmählich veröden und ohne Tannengrün und Fichtendickicht seine romantisch stimmende Innerlichkeit verlieren. die Umweltbewegung profitierte von einer solchen Anteilnahme ungemein und setze es allmählich durch, dass allerorten neue Bäume gepflanzt und die städtischen im heissen Sommer von Freiwilligen begossen wurden. manche Familien verzichten inzwischen auf ihre Weihnachtstanne. gekauft werden welche mit Wurzeln, auf dass sie wieder nach langen Transporten irgendwo eingepflanzt werden.
was in der Stadt allzu wild wuchert, wird hingegen gefällt und zurechtgestutzt. Bäume an Strassenrändern dürfen wegen dem zunehmenden LKW-Verkehr nicht in die Breite streben, ihre Äste werden alle Jahre beschnitten, so dass sie ein recht verkrüppeltes Dasein führen und nach einem extrem trockenen Sommer gefällt werden müssen. in den Parks sind dichte Büsche für die heimischen Tiere unerwünscht, man rodet sie, damit sich keine Dealer dort verstecken. ständig kreischen die Motorsägen, es werden selbst seltene Fliess-Biotope wie in Alt-Tegel urbanisiert. die noch nicht parzellierte Natur muss hier wie an vielen anderen Orten den Fundamenten von teuren Apartments und Shoppingcentern weichen. nur bei unklaren Eigentumsverhältnissen darf auf Grundstücksbrachen ungestört das Grün wachsen. unter Asphalt und Schotter schlummert im märkischen Boden das Wurzelwerk und wartet gut vernetzt auf günstige Zeiten. in einer nicht allzu fernen Zukunft wird, falls es so weitergeht mit dem globalen Prosperieren und atmosphärischen Penetrieren, das Urbane von der Natur zurückerobert. irgendwann darf es nach einer apokalyptischen Auszeit wieder ohne den Menschen richtig spriessen. evolutionär wird dann vielleicht der Kampf ums Dasein nochmal durchgespielt, damit der schöpferische Plan besser gedeihe.