petting des ich
jeder dritte Mensch war im authentischen Milieu ein Spitzel. wir konnten es unter uns eins-zwei-drei
abzählen und dann tippte der Zeigefinger auf irgendwen gerade Dastehenden. jener lachte
vielleicht oder nicht, falls er sich getroffen fühlte. die Stasi war allgegenwärtig und
nannte sich offiziell Staatssicherheitsdienst der DDR. zu fürchten war sie, weil jeder
Fürchterliches gehört hatte. niemand konnte sich ihren inoffiziellen Mitarbeitern,
entziehen. heute gibt es den Geheimdienst NSA, der unvergleichbar per Software E-Mails
und online-Bewegungen international mitliest. in einer liberalen Gesellschaft
muss es keiner allzu ernst nehmen, da er selten mit den Konsequenzen
einer globalen Schnüffelei konfrontiert wird. wir hatten uns damals ebenfalls entschieden, nicht
alles ernst zu nehmen und keine Geheimnisse zu haben, insofern es sowieso nichts zu
verbergen gab. wer kein Spitzel war, brauchte im alltälichen Smalltalken nichts
vorzutäuschen. die kritische Meinung wurde in der Musik oder
in der Kunst offensiv mitgeteilt. man lebte in einer poetischen Zeit,
wo in Gedichten zwischen den Zeilen politische Gesinnungen rebellierten und sich schwer zensieren
liessen. jene Offenheit entwickelte eine Subversion, die nicht
offensichtlich subversiv schien, erst nachhaltig einen autoritären Staat zum
Stolpern brachte.
persönlich wurde ich das erste Mal mit zwei Stasi-Mitarbeitern konfrontiert,
nachdem ich einen Aufruf zum kämpferischen Pazifismus von Tucholsky an ein
schwarzes Brett meiner Schule gepinnt hatte. die Lehrer haben es als
Provokation gegen die sozialistische Gesellschaft eingestuft und mich gemeldet.
erfreulicherweise teilten die zwei mich im Direktorzimmer verhörende Stasi-Leute
jenen Vorwurf nicht. Tucholsky zählte zum DDR-Kulturerbe und ich war mit meiner pubertären
Weltverbesserungsnaivität für sie kein ernstzunehmender Gegner. nach einem
vierstündigen Verhör wollten sie mich nicht einmal als Spitzel anwerben. ich kam
mit einem Schrecken davon und durfte fortan ungestörter für das Abitur lernen.
die mich denunzierenden Pädagogen mussten es ertragen, dass die Vernehmung folgenlos
blieb. sie wollten mich von einer weiteren Bildung suspendieren und hatten mein
Bleiben zu akzeptieren.
auch in reifen Jahren ist es mir wiederholt so ergangen. meine naive Offenheit
rückte mich in die Nähe unangenehmer Ränder und bewahrte mich vor
den Leimruten einer opportunen Karriere. ich blieb für Kollektives ein
schwer einzuordnender Mensch und wurde dafür entweder geschasst oder in Ruhe
gelassen. dies vor allem bei der Arbeit als Journalist, wo ich im Übermut mitunter
glaubte aufschreiben zu können, was ich zu denken meinte. bei den Kulturentscheidern
sorgte ich später als Künstler mit einem unrespektierlichen Verhalten für
ungewollte Irritationen. ich konnte mich nicht an Termin- und Themavorgaben anpassen, so dass ich für lukrative
Förderungen nicht in Frage kam. wo andere diplomatisch ihre Loyalität
bekunden, artikuliere ich als Eigenbrötler meinen Willen zum Experimentieren.