mikado als symptom


(eine vage klarstellung)

liege ich mit einer Grippe danieder, ist das Über-Ich geschwächt und lässt verwegen assoziative Gedanken zu. sie sind in letzter Zeit schwermütige Eingebungen, die aus einer ungeahnten Tiefe auftauchen. mit dunklen Imaginationen versuchen sie, sich einen Weg in die Sprache zu bahnen und dies arg erratisch, so dass Deutungen fehllaufen. beginne ich schreibend jene Ingeniosität festzuhalten, dann wird schlimmstenfalls notiert, dass ein trauriger Schreiber an einem Computer sitzt und bloss aufschreibt, was ein trauriger Schreiber an einem Computer aufschreibt. im melancholischen Zustand ist der Mensch ein Wesen mit viel schwarzer Galle im Blut, meinten die antiken Ärzte. jener Cocktail könne zur Genialität oder zum Wahnsinn führen, oder wie bei mir zu einer imposanten Mischung von beidem. Aristoteles verband die Schwermut mit besonderen Geistesgaben, doch war für ihn das Ziel des Denkens nicht eine Melancholie, sondern die Glückseligkeit. er meinte, man müsse seinen melancholischen Gedanken die Welt der wahren Philosophie eudaimonisch entgegensetzen.
doch eignet sich die Philosophie tatsächlich dafür? sie stellt seit jeher obstinate Fragen nach dem Sinn allen Strebens und dementsprechend abgründig sind ihre Antworten. was also tun, insofern einen die Zumutung des Lebens lähmt statt befördert, in die Knie zwingt und nicht erhebt? führt das verzweifelte Zweifeln zu einer kathartischen Erlösung, relativiert sich ein moralisch verbrämter Konsenszwang. trübe Phasen können dann ein Trigger sein, die das unglückliche Bewusstsein erträgt, dieweil es sich Mass nimmt und die Welt verliert. eine solche Haltung stimmt grosso modo versöhnlich und regt dazu an, als beschränktes Wesen über die Unendlichkeit nachzudenken. ich muss es immer ganz nüchtern, wenn mich mein jüngster Sohn nach der Summe von Unendlichkeiten fragt. in jungen Jahren habe ich mich dafür ebenso interessiert und später mutig Cantors Mengenlehre exploriert, welche mich so lange nicht los liess, bis ich sie halbwegs verstanden hatte.
viel einfacher war es, als Jugendlicher ein bisschen Punk zu sein. das belebte als gelebte Paradoxie die Pubertät. wie manch anderer meiner Generation verweigerte ich mich nicht einfach nur den etablierten Wertesystemen, sondern erhob mit einer verwegenen Kleidung das Abstossende zu einem persönlichen Habitus. ich wollte es wie ein Kyniker ausprobieren und entdeckte während meiner Pennälerzeit das Absurde als Handlungsprinzip. meine disparite Verwegenheit war keine Realitätsverweigerung und auch keine übliche Kostümierung mit einem zuckergestärkten Irokesenkamm. nein, ganz im Gegenteil, ich führte ohne erkennbare Distinktion das Leben eines Schelms, der nicht abwarten und in Deckung gehen wollte, bis die Zeiten bessere wurden. ich ritt blindlings drauflos, schlug meine Sporen in die Flanken und vergass, dass das Pferd, das ich dabei tranchierte, ich selbst war.