mikado als symptom
man duzt ihn nach wie vor unbekannterweise. obwohl er die 50 überschritten hat und mit abgeklärten Blick umherwandle, wird er von Alkoholikern, Schnorrern und Vertretern derart vereinnahmend angesprochen. er siezt dann zurück, ganz unverblümt, um Respekt zu erheischen. selten jedoch mit Erfolg. man sieht ihm nicht an, wer er ist und will es wohl nicht wissen. selbst dann nicht, wenn er vorübergehend mit jemand leutseelig ins Schwätzeln kommt.
in Berlin war es lange üblich, sich innerhalb einer verschworenen Gemeinschaft zu duzen. nach dem Mauerfall vereinte sich die Stadt zu einer riesigen Party. eine euphorische Aufbruchstimmung verband Alteingesessene und Herbeiströmende aus diversen Kulturkreisen in einem Möglichkeitsraum. in der Unbeschwertheit eines günstigen Wohnens wurde miteinander ein verträumtes Abenteuern ausgelebt. emotionale Vertrautheiten und sexuelle Präferenzen kamen übergangslos zum Zuge. wer brauchte da ein Sie als sichere Distanz.
er kann sich noch gut daran erinnern, wie aufregend es für ihn als Pubertierenden war, als in der 10. Klasse die Lehrer zu siezen begannen. einige duzten zwar weiterhin, aber sie hatten vorher gefragt, ob es recht sei. lange Zeit gab es immer vorwurfsvolle Sätze mit einem Du am Anfang, nun wurde daraus ein: Bitte mässigen Sie sich! bei einer solchen Anrede fiel es nicht schwer, sich wie ein Erwachsener zu benehmen. wenigstens für zehn Minuten. in manchen Sprachen gibt es kein Sie, nur das Du, welches ein sehr allgemeines ist. die Werbung arbeitet damit und versucht so ganz inniglich zu überzeugen, wie bei Ikea etwa, wo es Teil einer Imagekampagne ist, die ein Klischee von schwedischer Snörrigkeit vermitteln wollen.
noch schlimmer als jenes Duzen ist ein Wir, das nicht nur die Bild-Zeitung auf der ersten Seite regelmässig als Imperativ abdruckt. in der Kunst wird es unisono heraufbeschworen, falls Sparmassnahmen drohen und solidarische Stellungnahmen dagegenhalten sollen. dabei ist jene Ansprache ein verlogener Plural, der kein tatsächliches Gemeinschaftsgefühl aufkommen lässt, jedenfalls nicht unter Einzelkämpfern, die als allzu viele sich gar nicht mehr kennen, und wenn es um die eigene Anerkennung geht, sich eher gegeneinander behaupten.
bei Vernissagen steht heute das Sie am Anfang eines Gespräches und irgendwann ein vages Du, das respektvoll bis zu einem charmanten Abschiedsgruss verbleibt oder in eine Kneipe zu einem ausgiebigen Plausch führt. hier ist das Duzen weiterhin üblich und wird sogar von den Kellnern in den noblen Szene-Etablissements praktiziert. es ist eine noble Geste, die keine Unterschiede zwischen Stammpublikum und Fremden macht, und besonders nett für den gut betuchten Gast ausfällt, auf dass er sie mit einem ordentlichen Trinkgeld honoriert.